Wissenschaftlicher Werdegang

Geschichte der Metaphysik , der praktischen Philosophie und der Ästhetik waren die Schwerpunkte meines Studiums in Tübingen. In meiner Dissertation bei Prof. Dr. Walter Schulz > Die transzendentale Selbstreflexion des Wissens. Gegenstand und Methode der Wissenschaftslehre J. G. Fichtes < deutete ich Fichtes Wissenschaftslehre als Versuch, der Transzendentalphilosophie Kants, das heißt der Philosophie, die sich über die allgemeinen und notwendigen Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeiten theoretischer, praktischer, ästhetischer und technischer Erkenntnis vergewissert, die endgültige Gestalt des absoluten Systems zu geben. Von der ersten Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1794/95 ausgehend, untersuchte ich, inwiefern die Aporien, die ich fand, ausgeräumt werden können oder im Ansatz selber wurzeln, denn Fichte verschrieb sich zeit seines Lebens der Transzendentalphilosophie. Mittelpunkt der Dissertation war das Verhältnis des Ichs zur Realität, das sich zuspitzt zur Frage der Beziehung des Ichs zum Absoluten, zu Gott, einerseits und zum Bezug von Philosophie und Leben, Theorie und Praxis andererseits. Ich konstruierte die Methode des Systembaus, die der transzendentale Philosoph > die Fünffachheit der Synthesis< nennt. Fichte entwarf eine Theorie der selber transzendentalen Differenz der schlechthin allgemeinen philosophischen und empirischen, einzelwissenschaftlichen Begriffsbildung in weiser Selbstbegrenzung, eine Theorie, die sich mit Hegels Logik des spekulativen Begriffs nicht bloß messen kann, sondern die spekulative Logik in diesem Punkt sogar noch übertrifft. Fichte hält, im Gegensatz zu Hegels unbedingter Einheit von Denken und Sein, am unauflöslichen Unterschied von Wissen und Realität fest. "Sein" ist für Fichte im Anschluß an die transzendentale These, die Kant explizit in der Kritik des ontologischen Gottesbeweises formuliert, unabdingbare Voraussetzung, die nicht im Bewußtsein sich auflösen läßt, doch im Wissen dargestellt werden muß, das auf sich selbst sich besinnt - reflektiert - . Aus dem Wandel in der Auslegung dieser These leitete ich die Entwicklungsepochen der Wissenschaftslehre des Philosophen her. Schließlich analysierte ich Fichtes Begründung und Einteilung des Systems und stellte die Beziehung zu den bisherigen Einteilungen der Philosophie im allgemeinen und der Metaphysik im besonderen her. Ich arbeitete die historische Formbestimmung heraus, das heißt, ich ordnete Fichtes transzendentale Philosophie in die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität als Metaphysik des Herstellens, der Arbeit, ein.
Ich nahm an, im spekulativen Idealismus nach Kant vollende sich die traditionelle Philosophie, sie gehöre aber mit ihrem Anspruch auf absolute übergeschichtliche Wahrheit der Vergangenheit an. Uns trennt ein Ereignis, das Karl Löwith als den > revolutionären Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts< beschrieb. In meiner Habilitation > Aufhebung der Philosophie. Marx und die Folgen < (Metzler Verlag) rekonstruierte ich den Umschlag an einem Modellfall. Im Anschluß an Ernst Bloch und Martin Heidegger formulierte ich die These, traditionelle Philosophie frage nach dem Wesen des Seienden in doppelter Perspektive: nach dem allgemeinen Wesen und nach dem Wesen in seiner Rangfolge, dem höchsten Wesen. Sie ist Ontotheologie , die im Bann eines statischen Wesensbegriffs steht. Bruch mit dieser Tradition bedeutet dann: Aufhebung der ontologischen und der theologischen Form, positiv gewendet: Historisieren des philosophischen Wahrheitsbegriffs und Humanisieren des höchsten Gegenstands, des Göttlichen . Ich vertrete die Auffassung, daß am Leitfaden dieser Hypothese der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts , den Karl Löwith diagnostizierte, sich systematisch rekonstruieren läßt. Hieran haben alle bedeutenden Philosophien nach Hegel Anteil, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form. Einleitend steckte ich den Rahmen des Problems ab. An einem speziellen Entwicklungsstrang konkretisierte ich meine Hypothese, im ersten Teil der Untersuchung an Marx selber und im zweiten an einigen repräsentativen Positionen der Nachfolger . Sie kommt zum Ergebnis, daß Marx selber in seiner ersten - noch philosophischen - Entwicklungsphase, die bis zu den > Pariser Manuskripten < von 1844 reicht, zwar die metaphysische Form der Philosophie, die Theologie, aufgibt, aber immer noch einem konventionellen Begriff anhängt, woraus er die bekannte Theorie der entfremdeten Arbeit ableitet, noch nicht immanent ökonomiekritisch aus dem Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit, sondern aus der primär logisch bestimmten vierfachen Selbstdifferenzierung des Wesens. Erst in der zweiten Hauptphase, die mit den > Elf Thesen über Feuerbach < und der > Deutschen Ideologie < einsetzt, hebt er das ontologische Fundament auf und stellt seine Kritik auf eine neue, nunmehr historische Grundlage. Wir sehen uns vor einer paradoxen Situation: Marx bringt das Problem einer Aufhebung der Philosophie einzig in der ersten Phase zur Sprache, in der zweiten begnügt er sich mit sparsamen gelegentlichen Reflexionen ohne systematischen Anspruch. An die Stelle der Philosophiesoll die > positive Wissenschaft< treten. Ich zeige aber, daß Marxens Konzept einer Wissenschaft als Kritik mit der gängigen Vorstellung von Wissenschaft keineswegs konform geht. Wissenschaft ist essentiell Einzelwissenschaft, die ihr Ressort von anderen scharf abzirkelt. Der Begriff kritischer Wissenschaft trägt Züge, die man heute ohne zu zögern Philosophie - Wissenschaft des Ganzen - nennen darf. Marx überließ dieses so zentrale Problem, das er seinerzeit selber aufgeworfen hatte, der Nachwelt definitiv ungelöst. Ich sah mich aufgefordert, zum einen Marxens Reflexionen nochmals zu reflektieren, diesmal aber systematisch, und zum andern Positionen aus der Marx-Nachfolge zu erörtern, soweit sie mit der Aufhebung der Philosophie sich befassen. Ich untersuchte den Begriff der Philosophie beim alten Engels, im Marxismus-Leninismus, bei Antonio Labriola, Antonio Gramsci, Georg Lukßcs und Karl Korsch, außerdem bei Max Horkheimer und Herbert Marcuse. Die überraschend disparate Heterogenität all dieser > Marxismen< überschreitet den Rahmen einer einigen, konsistenten und konstruktiven Theoriebildung. Zu den haltbarsten und nach wie vor diskutierenswerten Positionen scheint die Strömung gelangt zu sein, die Maurice Merleau-Ponti den > westlichen Marxismus< genannt hat, insbesondere die Kritische Theorie Max Horkheimers und Herbert Marcuses .
Wir leben heute in einer Situation, welche der späthellenischen des Alexandrinismus durchaus vergleichbar ist. Die Zeit der großen metaphysischen Systeme ist vorüber. Wir sind aufgerufen, über unbekanntem Terrain zu fliegen. Die industrielle Revolution hat das Gesicht der Welt so dramatisch umgekrempelt wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Davon hat auch die Philosophie Notiz genommen. Wie in der Vorlesung > Wozu heute noch Philosophie ?< dargelegt, bieten sich strukturell drei Möglichkeiten an, die Metaphysik aufzuheben oder zumindest zu verändern.
  1. Die traditionelle Metaphysik ist zu Ende. Es gilt, eine neue, utopische Form der Metaphysik zu finden, die sich vom Bann der Anamnesis gelöst hat (zum Beispiel die utopische Metaphysik Ernst Blochs). Philosophie und Metaphysik sind bedeutungsgleich.
  2. Die Metaphysik ist zu Ende. Wir sind gefordert, eine neue Gestalt der Philosophie zu entdecken, die nicht mehr metaphysisch ist. Die Zeit der Metaphysik ist vorbei, die Philosophie hat nach wie vor Bestand, insofern sie die Metaphysik überschritten hat (zum Beispiel die Kritische Theorie Herbert Marcuses). Philosophie hat weitere Bedeutung als Metaphysik.
  3. Mit der Metaphysik ist auch die Zeit der Philosophie vorbei. Es kommt darauf an, eine neue Form von Kritischer Theorie zu finden, die nicht mehr Philosophie ist. Das war Marxens letztes Wort zur Philosophie. Mit seinem > philosophischen Gewissen< hatte er zur Zeit der Kapital -Entwürfe > abgerechnet<.

Ich entscheide mich für die mittlere Möglichkeit. Unter > Aufhebung der Philosophie< verstehe ich nicht das Ende der Philosophie schlechthin, ihre Struktur wandelt sich tiefgreifend. Diese neue Form hat gesellschaftliche Praxis zum Primat, jedoch nicht mehr in Gestalt eines subjektiven Vermögens, vielmehr als > ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse<, als Produktion, Reproduktion und Aufhebung eines geschichtlich gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisses, keineswegs aber zum ausschließlichen Thema. Mit Ernst Bloch teile ich die Annahme, Praxis sei zwar das praktisch vorrangige, keineswegs aber das einzige Gebiet; Philosophie müsse die ganze Weite der Tradition sich erhalten, sie sei Theorie der Welt. Dennoch ist Erkenntnistheorie heute, nach Jürgen Habermasens Einsicht, nur als Gesellschaftstheorie möglich. Derart kann sie die alte philosophische Frage nach dem Ursprung, dem Gegenstand, den Formen und der Zwecke der Philosophie neu, nämlich gesellschaftlich beantworten.
In der > Aufhebung der Philosophie < erörterte ich kritisch das Problem der Philosophie. In meinem Buch > Auf den Flügeln des Kapitals < analysierte ich den gesellschaftlichen Ursprung selbst, freilich in indirekter Form: Marxens Darstellungen der Warenanalyse. Georg Lukßcsens Theorie der Verdinglichung spielt die Schlüsselrolle. Eine gekürzte Fassung erscheint als Teil in der > Sammlung Metzler<. Das Manuskript ist in Arbeit und in Hauptpartien bereits fertiggestellt.
In Zusammenarbeit mit Felix Heine und Uwe Opolka erschien im Rowohlt Taschenbuch Verlag ein Überblick über die Geschichte der politischen Philosophie in der Absicht, einen möglichst breiten Kreis von Leserinnen und Lesern zu erreichen: Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare , mit repräsentativen Philosophen von Platon bis zur Gegenwart.
Dem unakademischen Lehrer erwies ich meine Reverenz in Form einer Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Essays, betitelt > Grundrisse einer besseren Welt. Beiträge zur politischen Philosophie der Hoffnung <.. Im letzten Beitrag brachte ich die ästhetischen Differenzen zwischen Georg Lukßcs┤, Theodor W. Adornos, Walter Benjamins und Ernst Blochs Konzept des Essays zur Sprache. Die Sammlung erscheint noch 1997 im Talheimer Verlag.
In Seminaren und Vorlesungen befaßte ich mich mit der Geschichte der praktischen Philosophie, insbesondere der politischen. Systematische Kernpunkte waren: das Problem der Grundlegung, der Begriff der Arbeit, Arbeit und Praxis in ihrem geschichtlichen Wandel (Aristoteles im Unterschied zur neuzeitlichen Reduktion der Praxis auf Arbeit und die Wiedereinführung der Praxis bei Marx), das Verhältnis von Arbeit und Erkenntnis, Arbeit, Handeln und Theorie, Theorie der Herrschaft und ihrer Formen, die Idee der Demokratie. Gegenstand waren Aristoteles, die angelsächsische Tradition (Bacon, Hobbes, Locke, Smith, Ricardo), die französische Aufklärung (Montesquieu, Rousseau), die klassische deutsche Philosophie (Kant, Fichte, Schelling, Hegel). Besonders mit der kritischen Philosophie Kants war ich befaßt. Neuerdings kam noch das Ästhetische hinzu (Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft, Schellings Philosophie der Kunst, Hegels Ästhetik, Adornos > Ästhetische Theorie<).
Ein weiterer Schwerpunkt waren die Theorien des Alltagslebens phänomenologischer und marxistischer Herkunft (Husserl, Heidegger, Sartre, Kosik, Lefebvre, Agnes Heller und Habermas). Das Manuskript liegt ausgearbeitet vor.
In meiner wissenschaftlichen Arbeit nimmt die Geschichte der Philosophie einen breiten Raum ein - aus systematischem, nicht bloß archivarischem Interesse. Es geht mir um das, was Ernst Bloch > philosophisches Erbe < genannt hat: von der aktuellen Problemstellung aus gilt es, den unerschöpflichen, nie ganz auslotbaren Reichtum der Tradition auf┤s Neue aufzuarbeiten, denn sie ist uns nicht gegeben wie ein fertiges Ding, sie ist uns aufgegeben, und ich habe mir zur Aufgabe gemacht, ganz im Geist der Aufhebung der Philosophie, nach den Gründen zu forschen, wie es kommt, daß Philosophie eine Geschichte hat.


philinfo(philinfo@philosophie.uni-tuebingen.de) - Stand: Juli 97